Leseproben

Band 4: Karlo und das große Geld

Der gewaltige Donnerschlag schien den Himmel über dem kleinen Forst in zwei Teile zu spalten. Sekunden später schon tauchten mehrere Blitze das Waldstück in gleißendes Licht und rissen die Konturen der Bäume und Sträucher aus der Schwärze der Nacht. Die Frau zeigte keine Reaktion. Für einige Momente huschten die Schatten der Zweige und Äste über ihr Gesicht und ihren Körper. Seit fast sechs Stunden regnete es, und der Himmel war immer dunkler, der Regen immer stärker geworden. Heftige Windböen bogen das Geäst und pressten den Regen durch das Grün der Bäume.

Die Frau rührte sich nicht, spürte auch die dicken Tropfen nicht, die das dichte Blätterwerk nun scheinbar mühelos durchdrangen und wie kleine feuchte Geschosse ihr Gesicht trafen. Es störte sie auch nicht, dass ihr einziges Kleidungsstück, das knöchellange weiße Hemd aus teurem Satin, klatschnass an ihrem Körper klebte.
Selbst der nächste Donnerschlag verursachte bei der Frau in dem langen weißen Hemd keinerlei Reaktion. In der grell blendenden Lichtfülle des folgenden Blitzes hätte ein genauer Beobachter die kleinen Lachen in den eingesunkenen Augenhöhlen über den geschlossenen Lidern wahrnehmen können. Der nasse moosige Waldboden war wie eine weiche, bequeme Liegestatt für den reglosen Körper. Eine ölige Substanz, eine Art Schminke, wurde vom herabströmenden Wasser allmählich von der Gesichtshaut gelöst. Das ließ die Frau in genau jenem unwillkommenen Zustand erscheinen, in dem sie sich schon seit einigen Tagen befand.
 

Band 5: Karlo geht von Bord

Jeannette trat durch das Hoftor auf die Mittelseestraße und wandte sich nach links. Sie blieb stehen, warf noch einen flüchtigen Blick auf die schmuddeligen Kneipenfenster, die ein diffuses Licht in den Hof entließen, dann trottete sie langsam und nachdenklich los. Es dauerte nicht lange und sie hatte die paar hundert Meter bis zu ihrer Wohnung zurückgelegt. Als sie die Haustür öffnete und ins Treppenhaus trat, verzog sie ärgerlich das Gesicht. Es war doch immer das Gleiche. Das Skateboard von Niklas, dem kleinen Mistkerl, stand schon wieder mitten im Weg herum. Kürzlich hatte sie sich beinahe auf den Hintern gesetzt. Unwillig schüttelte sie den Kopf und wollte weitergehen. Urplötzlich kroch ihr eine Gänsehaut den Nacken empor.
Da war auf einmal noch etwas anderes.
Ohne sich umzudrehen spürte sie die Gegenwart des Fremden. Die Klinke der abrupt aufgestoßenen Tür bohrte sich schmerzhaft in ihren Rücken. Sie stolperte einen Schritt vorwärts, ihr Schlüsselbund glitt ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Ein kräftiger Arm legte sich um ihren Hals und nahm ihr die Luft. Als sie die Stimme wiedererkannte, erfasste sie die nackte Angst.
Der Fremde sprach leise, ganz leise und betont sanft. Der behutsame Ton bildete einen beängstigenden Kontrast zu dem brutalen Griff.
„Also zu dir? Auch gut. Du hast bloß vergessen, mich mitzunehmen, das war gar nicht nett von dir. Aber jetzt ist ja alles gut. Jetzt bin ich bei dir.“
Die Stimme war etwas lauter geworden, klang nun ölig, ihr erregtes Vibrato mündete in einem hundsgemeinen Unterton.
Jeannette wand sich verzweifelt in dem fester werdenden Griff des Mannes, der sich nun dicht an sie presste. Sie spürte, wie er seinen Unterkörper rhythmisch an ihrer Hüfte rieb. Feuchte Lippen krochen wie zwei schleimige Schnecken langsam über ihren Hals. Jeannette fühlte, wie sich seine Zunge entlang ihres Haaransatzes bewegte. An ihrem Ohr hielt sie inne. Er stöhnte ihr erregt in die Ohrmuschel. Seine nasse Zunge kroch am äußeren Rand ihres Ohres entlang und hinterließ eine kalte feuchte Spur. Panik erfasste Karlos Freundin. Sie drehte den Kopf ruckartig nach rechts und schnappte nach seiner Nase. Der verdutzte Angreifer spürte, wie sich ihre Zähne in sein Riechorgan gruben. Jeannette biss kräftig zu.
„Auuuuu“, jaulte der Fremde auf, „du blonde Dreckschlampe, wart nur, ich werd’s dir geben, du verdammte kleine Hure.“
Sein Griff lockerte sich. Mit einer heftigen Bewegung schaffte sie es, sich aus der Umklammerung zu lösen und stolperte hastig Richtung Treppe. Augenblicklich war er wieder hinter ihr. Sie verkrampfte sich und erwartete, dass er abermals versuchen würde, sie festzuhalten, da hörte sie ein scharfes Rasseln, das von vier kleinen Rädern verursacht wurde.
„Aaah, verdammt ...“
Ein dumpfer Aufprall folgte, etwas rollte ihr mit Schwung in die Hacken.
Das Skateboard. Danke, Niklas!
Der widerliche Kerl indes stand schnell wieder auf den Beinen und steuerte erneut auf sie zu.
Von diesem Moment an handelte Jeannette automatisch. Sie bückte sich, griff nach dem Rollbrett und packte es fest mit beiden Händen. Dann schloss sie ihre Augen und schlug nach Leibeskräften zu. Als sie die Augen wieder öffnete, stand der Kerl leicht schwankend vor ihr. Ein ungläubiger, erstaunter Blick traf sie, als sie in sein Gesicht sah. Aus seiner Nase rann ein dünner Blutfaden und bahnte sich einen Weg um den Mundwinkel in Richtung seiner Kinnspitze. Jeannette bemerkte mit Schrecken, wie sein Erstaunen in rasende Wut umschlug. In panischer Angst setzte sie nach und schlug erneut zu.
Und wieder. Und wieder. Und wieder. Und noch ein letztes Mal.
Nun stand der Kerl nicht mehr.
 
Band 6: Geschenke für den Kommissar
 
Bedächtig streiften die schlanken Hände die dünnen schwarzen Lederhandschuhe über, griffen nach der vergilbten Pappschachtel, in der sich seit vielen Jahren die Munition vom Kaliber 7.65 mm verborgen hielt, und öffneten sie vorsichtig. Die Hände hielten die Schachtel schräg und ließen den Inhalt behutsam auf den Tisch gleiten. Dann entfernten sie das Magazin der alten Beretta und begannen, die Patronen in den Schacht des Munitionsträgers zu schieben.

Nachdem sie das Magazin befüllt und wieder eingesetzt hatten, benutzten sie ein dünnes Leinentuch, um die Pistole sorgfältig von eventuell vorhandenen Fingerspuren zu reinigen. Ein leichter Schauer überlief die Person, der die Hände gehörten, als sie die anthrazitfarbene, fast schwarze Waffe betrachtete. Sie empfand durchaus eine gewisse Scheu vor dem todbringenden Instrument, man hätte es beinahe Respekt nennen können. Ein prüfender Blick glitt über die abgenutzten Griffschalen, die mit vermurksten, leicht rostigen Schrauben am Rahmen befestigt waren. So wie auch die ganze Waffe äußerlich schon ziemlich abgestoßen war. Doch es war einerlei, sie würde ihren Zweck sicher erfüllen.

Todsicher.

 
Band 12: Der Tod nimmt keine Wetten an
 

Als er gegen zwei Uhr in der Nacht zu seinem Wagen wank­te, war klar, dass er ei­gentlich nicht mehr fahren durfte. Zwar vertrug der große schmale Mann eine gan­ze Men­ge, das än­derte jedoch nichts am erhöhten Pro­mil­le­stand. 
Es war ihm durchaus klar, dass er auf seinem Heimweg nicht in eine Verkehrs­kon­­trolle geraten sollte, und so fuhr die Sorge mit, die Polizei kön­ne heute Nacht auf seiner Stre­­cke aktiv sein. Nachdem er die Innenstadt hinter sich gelassen hatte, wurde er ruhiger. 

Bald hatte er es nach Hause geschafft. 

Als er in das kleine Waldstück einbog, wurde es dunkler. Erst hier bemerkte er, dass sein rechter Scheinwerfer ausgefallen war. Nur mit Mühe durchdrangen seine Blicke die Dunkelheit. Der schwarze Schlapphut behinderte zudem sei­ne Sicht. Er nahm die rechte Hand vom Lenkrad, um sich den Hut vom Kopf zu ziehen. 

Der Mann sah kurz zur Seite und legte die Kopfbe­de­ckung neben sich auf den Beifahrersitz. Eine kleine Unaufmerk­samkeit, nicht mehr. Als er den Blick zurück auf die Straße lenkte, erschien wie hingezaubert ein Schatten vor der Mo­tor­hau­be. 

Er hatte keine Chance. 

Das dumpfe Geräusch des Aufpralls ging ihm durch Mark und Bein. Der Zusammenstoß rüttelte das Fahr­zeug kräftig durch. Irgendetwas geriet unter die Räder, zwei heftige Stö­ße versetzten den Wagen ins Taumeln.
Erschrocken trat der Mann auf die Bremse, und der Wa­gen be­gann stärker zu schlingern. Mit viel Glück bekam er das Fahrzeug am Stra­ßen­rand zum Stehen.

Einen Augenblick lang blieb er geschockt hinter dem Steuer sitzen. 

Was war das gewesen? 

Ein Tier? Gab es hier, so nah bei der Stadt, Tiere? Ein Reh, ein Hirsch, ein Wild­schwein? 
Oder ... er verbot sich, weiterzudenken.

Er stieg aus dem Wa­gen. Schloss die Fahrertür. Drei, vier Schritte ging er zurück, bis er das Heck seines Fahrzeugs er­reicht hatte.
Zwanzig Meter hinter dem Wagen sah er ein Bündel liegen. Die Trunkenheit wich der nackten Angst. Er rieb seine Augen und starrte angestrengt in die Dun­kel­heit. Aus dem Bündel ragten zwei längliche Gegenstände. Zwei blaue Stoff­röhren.

Jeans? Beine? Schuhe?

Und, am oberen Teil des Bündels, zwei weit auseinandergestreckte ... Arme? 

Das war kein Wildschwein!

Ein Schüttelkrampf erfasste seinen Körper. Immer wieder sah er nach rechts, nach links, nach rechts, nach links. 

Und wieder zu­rück.

Er schrak zusammen. Hatte sich da im Gebüsch etwas bewegt? War da jemand? 

Er starrte in die Finsternis.

Doch niemand war zu sehen.

Der Mann warf sich herum. Kopflos riss er die Fah­rertür auf und schlug die Tür­kante gegen sein linkes Knie. Der Schmerz raubte ihm fast die Besinnung, und ein wü­tender Schrei entfuhr ihm. 
Er hüpfte auf einem Bein, rieb sich dabei fluchend das malträtierte Gelenk, dann fiel er auf den Fahrersitz. Mit dem Hand­rücken wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn. Seine Hände bebten, als er den Zündschlüssel drehte.

Nichts wie weg von hier!

Der Motor heulte gequält auf, als er das Gaspedal durch­trat und die Kupplung kommen ließ.
In wilder Fahrt entfernte er sich vom Unglücksort.

Zu Hause angekommen, stellte er den Wagen in die Garage und verschloss sie aufmerksam. In der Wohnung griff er sich eine Flasche Bier. Er brauchte keine drei Minuten da­für, sie zu leeren. 

Der Gerstensaft brachte ihm keine Ruhe.

Hatte ihn je­mand beobachtet? 

Nein, das war nicht mög­lich. Niemand war zu sehen gewesen. Kein anderer Wagen hatte die Unfallstelle passiert. 

Niemand wusste von dem Unfall.

Wirklich?

Er wankte ins Schlafzimmer, legte sein Handy auf den Nachttisch, zog sich aus und ließ sich aufs Bett fallen. Nach kurzer Zeit begann er zu frösteln. Er kroch unter die Decke, drehte sich auf die Seite und zog hilflos die Beine an.

Als sein Telefon mit unpersönlichem Piepsen eine Nach­richt an­zeigte, beschloss er, es einfach zu ignorieren.

Eine Stunde lang wälzte er sich hin und her, fand keinen Schlaf, schwitzte, fror ... mechanisch griff er nach dem Te­le­fon und rief die Nachricht auf. Er kniff die brennenden Augen zusammen, das helle Display blendete unangenehm im Dunkeln. Dann fing er an zu lesen.

Sein Herz begann zu rasen.